Was es heißt Autist zu sein

Als ich hier ankam war mein Vorwissen über Autismus  quasi nicht vorhanden und größtenteils auf Vorurteilen und Halbwissen aufgebaut: „ein Autist sei ein Mensch mit narzisstischen Zügen, welcher die Emotionen anderer nicht deuten könne, auch wenn er es versuche.“ Doch das stimmte nicht. Hier habe ich gelernt, dass Autismus viel mehr Fassetten hat, viel vielseitiger ist, als ich es ihm vorher zugeschrieben habe. Autismus ist mehr, als das, wofür ich es gehalten habe.

Im Gegensatz zu meinen Erwartungen gibt es in unserer Einrichtung viele, die erkennen können, wenn sich jemand nicht gut fühlt. Einer meiner ersten Begegnungen mit M. war zur gleichen Zeit, als auch ein anderer Autist unglücklich auf der Couch saß. Er begann zu fragen, was passiert sei und ob man ihm ein Glas Wasser geben könne. Als all das nicht half, begann auch er zu weinen. Wenn M. sieht, dass ein anderer Mensch traurig ist, macht ihn das selbst traurig und er versucht  zu trösten, doch das ist nur der Anfang.

Zum Arbeitsplatz: In solch Einrichtungen, wie in der ich mein Freiwilliges Jahr verbringe, leben nur Autisten, welche eine kontinuierliche Betreuung benötigen. Der Alltag alleine kann sie  vor unüberwindbare Probleme stellen. Der Vergleich mit kleinen Kindern liegt oft nahe: es fehlt die Urteilskraft, Nebensächliches spielt größere Rollen, als Wesentliches, sodass bei der Auswahl der Kleidung, dem Essen oder dem regelmäßigen Einnehmen von Tabletten nachgeholfen werden muss. Auffällig ist auch, dass der Mehrheit der Autisten Eigeninitiative fehlt. Wenn ich etwas möchte, muss ich es direkt ansprechen. Das liegt auch daran, dass während der Kommunikation die Sachebene zwar wahrgenommen, der Apell aber oft nicht verstanden wird. Möchte ich, dass der Tisch abgewischt wird, so reicht es nicht aus zu sagen: „Hey N., der Tisch ist ganz schön schmutzig.“, es muss eine direkte Aufforderung folgen.

Denn ja, die meisten haben eine verzögerte Entwicklung in ihrer Kommunikationskompetenz. Während der Gespräche gibt es keinen Augenkontakt oder auch regelrechtes Starren. Einige sind laut für ihr Leben gerne, andere flüstern so leise, dass ich jedes Mal einen Schritt näher heran treten muss, wenn sie mit mir reden.

Besonders ist auch die Sprache. Es gibt diejenigen, die ohne Probleme reden können und die deren Wortschatz sehr begegrenzt ist. Wenn sie über sich reden, tun sie es meist in 3. Person.  Auffällig ist bei vielen, dass sie Sätze sagen, welche sie ständig wiederholen. S. geht alle paar Minuten auf dich zu und fragt übersetzt: „S. geht morgen zur Arbeit, stimmt’s?“ und er lässt nicht locker, bevor du nicht „Stimmt.“ geantwortet hast. Auch, wenn einige nicht mit ihrer Stimme reden, so  gibt es keinen der überhaupt nicht kommuniziert. Einige benutzen ein Ipad mit besonderer Software, andere auch einfach nur ein Heft mit Bildern. Ein anderer ist taub, sodass wir nur mit Gestiken kommunizieren. Auch das funktioniert. Überschlägt man die Arme und legt die Hände auf die eigenen Schultern, so gibt er dir eine herzergreifende Umarmung. Und selbst diejenigen, die mit keinen dieser  Dinge umgehen können, haben ihre Art zu kommunizieren – mensch muss nur lernen Zeichen und Laute zu verstehen.

Einige der Autisten sind sehr sensibel, was Körperkontakt angeht. Bei einem High-Five wird da schon überlegt. Andere schlagen dann so sehr ein, dass man sie darauf aufmerksam machen muss, dass dieser zu kräftig war. Einige lieben es gekitzelt zu werden, mit anderen spiele ich Fangen. Wir hören Musik, Basteln und Lachen zusammen.

Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass meine Arbeit immer einfach ist. Es gibt Momente, bei denen ich wirklich überlege, was ich hier eigentlich mache. Doch dann gibt es auch wunderschöne Zeiten. Zum Beispiel, wenn L. fröhlich ist, steht sie auf und beginnt sich lächelnd im Kreis zu drehen. Wenn E. seinen Kaffee bekommt und sich mit strahlendem Blick in die Hängematte setzt. Wenn S. beginnt „Für Elise“ auf dem Keyboard zu spielen, nur weil ich ihm die ersten Noten zeigte, wenn er beginnt zu singen. Oder, wenn  Y. auf dich zu rennt und dich fest umarmt, weil er gerade wieder glücklich ist.

Was ich hier gelernt habe: Autismus ist nicht gleich Autismus. Autist sein ist nicht gleich Autist sein.  Und „Autist“ sein ist nicht ein ganzes Dasein. Alle hier haben eine einzigartige Persönlichkeit, sind liebenswürdig, witzig, manchmal auch ziemlich nervig, lachen und sind traurig. Autismus ist ein Teil ihres Lebens, aber nicht ihr Leben.